Musikgeragogik - was verbirgt sich dahinter?

Keine Kultur in der bisher erforschten Menschheitsgeschichte hat ohne Musik gelebt. Musik begleitet den Menschen von der Geburt bis zum Lebensende.
So ist auch jeder Bewohner in unseren Häusern auf seine individuelle Weise mit Musik verbunden. Dieses herauszufinden und daran anzuknüpfen, um musikalisches Erleben zu ermöglichen, ist die zentrale Aufgabe der musikgeragogischen Arbeit.

Die Musikgeragogik in der Ev. Altenhilfe berücksichtigt die Tatsache, dass Menschen im Alter andere methodische Zugänge zur Musik benötigen. Darüber hinaus müssen die Angebote den speziellen Musikpräferenzen der Generation gerecht werden. Außerdem stehen mangelnde Mobilität sowie körperliche und geistige Einschränkungen im Fokus.

Musik empfangen oder Musik (mit)machen – Angebote der Musikgeragogik

Eine Vorgehensweise der Musikgeragogik ist das sogenannte „Für-Spiel“. Für den Bewohner oder eine Kleingruppe wird ein Lied gesungen oder ein Musikstück (am besten live) vorgetragen. Hierbei nimmt der Zuhörer - der Empfänger - die Musik über das Hören auf. Im Sinne einer Zuwendung ohne Gegenleistung knüpft dieser Vorgang entwicklungs-psychologisch an Kindheitserfahrungen an. Das Hören als Eigenbeteiligung bringt in der Regel einen inneren Prozess in Gang, ist häufig der Auslöser für Emotionen, Erinnerungen und Gespräche.

Darüber hinaus bietet die Musikgeragogik auch aktives Musikerleben: Einladungen zum selber Musizieren, zum Mitsingen oder zum Bewegen nach Musik sind ebenfalls Teil der Angebote. Auch hier werden vielfältige Reaktionen ausgelöst.

Beide Vorgehensweisen stellen einen präventiven, therapeutischen und rehabilitativen Ansatz dar, um die schulmedizinische Behandlungskonzeption zu ergänzen. Erkennbare Emotionen werden aufmerksam beobachtet und finden eine sensible Antwort; Blick- und Körperkontakte verstärken Freude oder spenden Trost. Die Befindlichkeiten beeinflussen die weitere Gestaltung der Begegnung: positive Stimmungen werden aufgegriffen und vertieft, negative Gefühle werden angenommen und validiert. Das sorgt häufig bereits für Erleichterung und Entspannung.

 


Die vielschichtige Wirkung von Musik

Der Beweis einer Objektivierbarkeit von Musikwirkungen ist bisher nicht gelungen. Dafür ist das Musikerleben viel zu individuell und von einem vielschichtigen Zusammenspiel verschiedener Faktoren, wie z.B. dem situativen Kontext und der Beziehungsqualität zum Musikgeragogen abhängig.

Dass Musik aber auf den Einzelnen immer eine Wirkung hat, ist unumstritten. Viele Studien und auch die Praxis in unseren Häusern zeigen ganz deutlich, dass musikalisches Geschehen ganzheitlich auf die Teilnehmer wirkt und zu einem gesteigerten Wohlbefinden beiträgt. Sowohl in der Einzelarbeit als auch bei Gruppenangeboten lassen sich folgende Ergebnisse beobachten:

Ebene Geist und Seele/sozial psychologisch:

  • Musik bietet eine Ausdrucksmöglichkeit für momentane Stimmungen (Schmerz oder Freude sind aufgehoben)
  • Musik beeinflusst und verändert die aktuelle Stimmungslage: Sie kann trösten, sie sorgt für Erinnerungen, sie lenkt ab…
  • Musik dient als Ersatz und Ergänzung der Sprache, schafft Momente der Begegnung und ermöglicht Kontakt, wo die gesprochene Sprache vielleicht schon fehlt
  • Musik wirkt ordnend und strukturierend
  • Musik löst Erinnerungen aus, weckt innere Bilder und trägt zum Erhalt der Identität bei (gerade bei demenziell veränderten Bewohnern tragen diese kleinen Mosaiksteinchen zum seelischen Gleichgewicht bei)
  • Musik überwindet Isolation, ermöglicht Zugehörigkeit und Gemeinschaftsbildung (ist gerade für Menschen mit Depressionen sehr förderlich), Musik wirkt harmonisierend in der Gruppe
  • Musik stärkt das Selbstwertgefühl durch Wahrnehmen der eigenen Fähigkeiten, schafft Würde durch Erfolgserlebnisse und Begegnung auf Augenhöhe
  • Musik fördert Entspannung, trägt zum Abbau von Unruhezuständen und Ängsten bei

Ebene Körper/physiologisch:

  • Musik verbessert die Durchblutung und nimmt Einfluss auf Herzrhythmus, Blutdruck,  Atemfrequenz und Hormonausschüttung
  • Musik trainiert das Gedächtnis und schult Konzentrations- sowie Koordinations- und Reaktionsfähigkeit
  • Musik lädt zur Bewegung ein und trainiert die Muskulatur und Gelenke, Musik beeinflusst das autonome Nervensystem (kann bei einem Schlaganfallpatienten zur Bewegungsübung stimulieren; kann bei einem Parkinsonpatienten den Tremor reduzieren)


Am Anfang unserer musikgeragogischen Arbeit stehen die wichtigen musikbiografischen Fragen, der unverzichtbare Austausch mit den Bewohnern, Angehörigen und Pflegekräften und dann…

ja, dann kann es direkt losgehen mit dem unendlich großen Schatz der Musik!